Donnerstag, 11. Januar 2018

Das Mädchen und der Drache

Für meine Tochter

Der neue Freund

„Guck mal Mama! Ich habe einen neuen Freund mitgebracht.“
In Erwartung, ihre kleine Tochter habe wieder eine Maus, einen Igel, einen Hamster oder vielleicht einen Vogel anschleppte, schaute die junge Frau mit liebevollen Blick auf ihre Tochter um dann den neuen Freund zu sehen. Das Gesicht wurde blass während ihr Blick immer höher und höher ging. Das Kinn klappt herunter und mit Schreck geweiteten Augen sackte sie gegen den Türrahmen um dann mit einem Seufzer zusammenzubrechen.

„Mama?“
„Ich sagte doch, dass das keine gute Idee ist.“
Fernes Donnergrollen klang ähnlich beruhigend, wie die Stimme aus ungefähr 15 Schritt Höhe.

Einige Stunden vorher

„Du bist wach! Schön. Du hast sehr lange geschlafen. Wie heißt du? Ich heiße Maja.“
Fröhlich plapperte das Mädchen drauflos, als würde sie nicht in ein Auge schauen, das so groß wie ihr Kopf war. Und dass dieses Auge in einem riesigen Schädel steckte, der so groß wie eine Kuh war und ein Maul trug, dass eine solche ganz einfach zerreißen konnte. Wie die sichtbare Zahnreihe erahnen ließ, deren Zähne so lang wie ihre Beine waren.

Ein Schnaufen fuhr aus den Nüstern und der Wind fuhr durch die ganze Höhle. Das Schnaufen wurde lauter und endete in einem Grollen dessen Vibration das Mädchen zittern ließ. 
„Hi Hi Hi! Das kitzelt. Mach das nochmal!“
Nun war es das riesige Wesen vor ihr, das erneut kurz grollte ohne es zu wollen. Fröhlich kicherte die Kleine. Das Kribbeln ging bis in die Haarspitzen.
„Wie heißt du?“
Wieder ein kurzes Grollen, gefolgt von einem Kichern.

„Fürchtest du dich gar nicht?“ grollte die Stimme und ein wenig Rauch quoll aus den Nüstern.
„Warum sollte ich?“ lächelte sie den Drachen an.
Dieses Mal grollte er etwas länger, fast nachdenklich.
„Menschen fürchten sich meistens vor mir.“ antwortete es langsam.
„Warum denn? Du hast doch nur geschlafen.“
„Hrrrrrmmmmm“ grollte es gedehnt. „Das tue ich nicht immer. Wenn ich wach bin, dann habe ich Hunger und fresse.“
„Menschen?“ fragte das Mädchen nun mit einem Anflug von Sorge.
„Hrm. Nein. Die mag rrrrrr fresse ich nicht.“
„Dann ist doch alles gut.“ lächelte sie beruhigt und stellte die Lampe auf einen Stein vor sich. Sie dreht an einem Rädchen um mehr Licht zu bekommen.
„Ich habe einiges aus deinen Zähnen gepult. Machst du die nie sauber?“
„Hrrrrm?“ grollte es kurz und nun erfasste die Kleines es als Laut der Verwunderung.
„Na, deine Zähne. Das war ja scheußlich! Ich habe da einige Knochen und sonst was rausgeholt. Das war schwer und sehr eklig!“
„Wie bist du hier überhaupt reingekommen?“ grollte die Frage ihr entgegen. „Und wie lange ... besuchst du mich schon?“
„Es gab einen Erdrutsch. Vor ein paar Tagen.“ Kurz neigte sie den Kopf. „Oder vor einer Woche oder so. Da habe ich schöne Steine gefunden und dann die Höhle. Es ist nur ein kleiner Eingang. Ganz versteckt.“
 „Hrrrm, gut.“
„Hast du lange geschlafen?“
„Einige Jahre.“
Kurz schloss das Wesen die Augen und senkte den Kopf. Erinnerungen schossen wie Blitzlichter am geistigen Auge vorbei.
„Das ist sehr lange! Ich schlafe nie so lange. Nur in der Nacht. Und manchmal kann ich dann auch nicht schlafen. Wenn es kalt ist oder so. Du bist schön warm. Das mag ich.“
Kurz blinzelte das Wesen mit den Echsenartigen Augen und legte den Kopf schief.
„Erstaunlich.“ grollte es. „Bisher fürchteten sich alle Menschen vor mir.“
„Wenn du sie nicht frisst, warum haben sie denn Angst gehabt? Hast du sie gehauen?“

Das blecken der Lefzen hätte selbst erfahrene Krieger vor Angst zurückweichen lassen, doch spürte die Kleine sofort das Lächeln, dass es sein sollte. Der Drache war gerührt von der Arglosigkeit des Mädchens.
Weit hinten in der Höhle schliff etwas Großes über den Boden.
„Du bist ja riesig. Kannst du fliegen? Das dahinten sieht aus wie Flügel.“
„Rrrrrr ja, ich kann fliegen. Und ja, ich bin größer als du.“
Mühsam erhob sich das Wesen auf seine Tatzen und begann sich zu strecken.
„Arrrrr das tut gut.“ Den Kopf hin und her drehend erhob es sich weiter. Dabei knackten die Knochen als würden Äste brechen.
Mit strahlenden Augen schaute ihn das Mädchen an. Über ihr legte der Drache den Kopf schief. Nach alle den Jahren des Schlafes hatte er Hunger. Doch Menschen vermied er zu fressen. Selbst die Krieger, die ihn jagten vermied er zu fressen oder nur zu töten. Die alte Freundschaft zu den Menschen war ihm noch zu präsent. Wenn auch diese Freundschaft seit langem nur noch in seiner Erinnerung bestand.
Nun stand hier ein kleines Menschenkind vor ihm, hier in seiner Höhle die nie ein Mensch zuvor betreten hatte und fürchtete sich vermutlich mehr vor der Dunkelheit als vor ihm. Kopfschüttelnd legte er sein mächtiges Haupt wieder auf seine Tatzen nieder und atmete nochmals tief durch. Die Zeit des Erwachens war bisher immer eine Zeit des Alleinseins gewesen. Nun plapperte das Mädchen fröhlich drauflos wie ein Bergbach im Frühling.
Was hatte sie gerade gesagt? Sorgen? Warum? Name? Ach ja, sie wollte seinen Namen wissen. Sie redete so schnell und er musste erst mal Wasser saufen und etwas fressen. Hoffentlich gab es noch die Herden der Menschen. Schafe mochte er nicht so gern, die hatten zu viel Fell. Kühe waren gut. Viel Fleisch.
Was? Kleine, du redest zu viel. Zu viel und zu schnell. Was bedroht euch manchmal? Hrrrm, diese Menschen. Kaum ist etwas größer als sie selbst, werden sie ängstlich.
„Schweig!“ grollte er lauter als gewollte und das Mädchen zuckte zusammen. Irgendwo polterten Steine zu Boden. Ängstlich drückte sie eine kleine Strohpuppe an sich und ließ den Kopf hängen.
„Verzeih! Der lange Schlaf macht mich träge und du ...“
„redest du viel, richtig? Ich rede immer so viel, sagt meine Mama und oh.“ Brach sie sich selbst ertappend ab.
„Harr Harr Harr!“ grollte ein freundliches Lachen durch die Höhle. Das Wohlwollen spürte das Kind mehr als dass es das hörte.
„’tschuldigung.“ Mit gesenktem Kopf schaute sie ihn an.
„Schon gut. Der Durst und der Hunger sind groß und.“
„Ich hab hier was plätschern hören, vielleicht ist das ein Wildbach und du kannst oh, tut mir leid.“
„Hrrrrmmm.“ Den mächtigen Kopf schüttelnd erhob sich der Drache und stemmte sich auf seine Beine die manch alten Baum an Umfang übertragen. „Geh da in die Nische! Ich drehe mich nun um und sehe dich dann nicht.“
Mit einer überraschenden Geschmeidigkeit und Eleganz drehte sich der Drache von ihr weg und umrundete eine Felssäule so groß wie ein Kirchturm. Dann war er verschwunden in der Dunkelheit. Maja kauerte sich in die Nische. Dass in die Nische ihr Elternhaus dreimal reingepasst hätte, von der Höhe ganz zu schweigen, machte sie etwas nervös doch wollte sie sich nichts anmerken lassen.
Von weit hinten ertönte nun ein Plätschern und Klatschen von Wasser. Der Drache trank wohl den Bach leer.

In einem der nächstgelegenen Dörfer wunderte sich der Wassermüller, dass seine Mühle plötzlich stillstand. Als er aus der Tür an den Bach trat, stellte der Müller überrascht fest, dass der Bach zum Rinnsal geworden war. Eben überlegte er zum Schultheiß zu gehen, als das Plätschern wieder lauter wurde und der Bach zu seiner alten Größe fand. Hat sein Oheim nicht davon mal erzählt?

„Kommst du mit raus? Hier ist es kalt und feucht. Draußen ist es schön warm. Die Sonne scheint. Und ich habe Hunger. Vor der Höhle steht ein Apfelbaum und.“
„Rrrrrrrrr!“
„Ja, ich bin ja schon ruhig.“
„Geh vor!“
Langsam tapste sie los, die Puppe eng an sich gedrückt und verließ bald darauf die Höhle. Fröhlich pflückte sie einige Äpfel und warf dem Drachen einen zu. Hätte er erstaunt gucken können oder wenigstens eine Augenbraue heben können, er hätte es getan. So wunderte er sich über das weiche Steinchen in seinem Maul und schluckte es herunter.

„Kommst du mit?“
„Wohin?“
„Zu meiner Mama. Sie möchte alle meine Freunde kennenlernen. Ich bringe immer mal einen Vogel oder eine Maus mit.“
Wieder brummte der Drache als Äquivalent des Augenbrauen Hebens. Immer noch erstaunte ihn die Sorglosigkeit.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Menschen mögen mich nicht besonders.“
„Ich mag dich. Dann mag Mama dich auch!“ entschied sie und ging los.
Vorsichtig schob sich der Drache aus der Höhle und streckte sich erst mal in alle Richtungen aus. Auf der Wiese breitete er die mächtigen Schwingen aus und hob kurz ab um direkt hinter dem Mädchen zu landen.
Dieses drehte sich überrascht um, sie hatte ihn weiter hinten vermutet. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an.
„Was hast du, Kleine?“ fragte er arglos. Den leichten Spott spürte sie dennoch.
„Kannst du fliegen?“
„Du bist schlau.“
„Das sagt Mama auch immer. Und frech, sagt sie. Aber das stimmt nicht, finde ich.“
„Hrrrrmmm.“

Fröhlich lief sie über die Wiese an einem kleinen See vorbei. Um eine kleine Biegung des Waldes herum führte sie ihn und bald standen sie vor dem Haus ihrer Mutter.
„Maaaamaaaaa! Maaaamaaaa!“ rief sie laut. Da trat ihre Mutter in die Tür.
„Guck mal, ich habe einen neuen Freund mitgebracht!“ rief sie fröhlich um dann überrascht „Mama? Was hast du Mama?“ ihre Mutter zusammenbrechen zu sehen.
„Ich sagte doch, dass das keine gute Idee ist.“ Grollte es über ihr.
„Aber aber ...“
„Ich werde mir was zu fressen suchen und dann in der Höhle warten. Kümmere du dich um deine Mutter.“
„Ja.“ Kam es traurig zurück.
Schnell lief das Mädchen auf ihre Mutter zu und bettete den Kopf in ihrem Schoß. Als ihre Mutter erwachte, verschwand der reptilienartige Schwanz der Echse gerade um die letzten Bäume.

Maja konnte nicht verstehen, dass ihre Mutter ihr zum einen nicht glauben wollte und zum anderen verbot wieder zu der Höhle zu gehen. Warum durfte sie ihren neuen Freund nicht wieder sehen? Er tat doch niemandem was. Sie lag die ganze Nacht wach und dachte an ihren Freund. Immer wieder sah sie ihn vor sich und spürte sein Lächeln.

Einige Meilen entfernt lag ein alter Drache in seiner Höhle und lächelte ebenfalls.


Am Tag darauf

„Aus’m Weg, Du!“
Etwas brach krachend auseinander, Geschirr zerbrach klirrend auf dem Holzboden.
„Was wollt ihr? Ich habe nichts!“
„Werden sehn.“ Bellte eine rauhe Stimme.
Innig betete die Mutter, ihr Kind möge weiterschlafen und nicht entdeckt werden.
„Mama? Was ist passiert?“
„Maja! Versteck di-AU!“ Ein hartes Klatschen unterbrach sie.
Die Tür zur Kammer wurde so hart aufgerissen, dass sie aus den Angeln brach.
„Was hab’n wir da? Süßes Vögelchen. Gefällt mir.“
Grobe beharrte Hände packten sie hart an dem dünnen Arm und rissen sie aus der Kammer. Wie am Spieß schrie sie.
„Lasst sie, bitte! Nehmt mich!“ Verzweifelt war ihre Mutter sich auf einen der Unholde.

Es waren nicht wirklich Menschen, die sie da bedrängten. Es wusste niemand so genau, was sie mal waren und wie sie das wurden, was sie nun waren. Irgendeine Mischung eines Wesens aus den Bergen und Mensch, das nun voller Hass die beiden Weibachen voller Gier anschaute. Der Anführer war der einzige, der die Sprache der Menschen sprach.
Seine vier Kumpane durchwühlten bereits die kleine Hütte und zerbrachen alles, was sich zerbrechen ließ. Sie fluchten laut in ihrer Sprache, denn es gab hier nichts. Gierig linsten sie zu dem hübschen Menschenweibchen. Sie wollten es auch. Doch ihr Anführer durfte als erstes, so war es immer. Dann würden die anderen rankommen.

Oh, was war das? Der Anführer fluchte laut und nahm sein Handgelenk in den Mund. Ah, er hat nicht aufgepasst. Das kleine Weibchen hat ihn gebissen. Selber Schuld. Ja, schon recht, dass er sie aus der Hütte wirft. Da kann man sie schon mal hauen. Oh, die Kleine wehrte sich immer noch. Verdammt. Die war zäh. Er warf sie gegen den Zaun. Grad beugt er sich über sie, als ein anderer laut aufschrie und zusammenbrach.
Oh, das Mutterweibchen hat einen Dolch. Das ist ärgerlich. Der andere war stark, nun ist er tot. Selber Schuld. Oh, sie greift weiter an. Verletzt noch einen am Arm. Endlich trifft sie eine Keule. Ja, das Mutterweibchen bricht zusammen. Gut. Hoffentlich lebt sie noch. Tot macht es nicht so viel Spaß. Brutal schlägt der Anführer erst den Verletzten, dann das ältere Weibchen. Sie wuchten sie auf einen Tisch vor dem Haus. Das Kind schreit viel zu laut. Was bedeutet Drache? Egal, ein alter Lappen wird sie still machen.
Die Mutter bekommt einen Eimer Wasser über den Kopf. Der Anführer reißt ihr schon mal die Kleidung vom Leib und reißt den Lendenschurz runter. Gut, wenn er fertig ist, dann kommen wir. Hier drinnen ist noch Brot, die anderen beiden warten draußen, da kann ich essen.

Trotz Knebel kreischt das kleine Weibchen ganz schön laut. Die ältere ist noch benebelt, gut. Sie wird schon wach, wenn sie dran ist. Drumherum stehen die beiden Kumpane und feuern ihn an. Ihre Erregung ist deutlich zu sehen. Was ist das? Grad will der Anführer sich auf das Mutterweibchen stürzen, da steigt der Anführer in die Luft. Kann er fliegen?

Mit stumpfen Blick und offenem Maul folgen seine Kumpane dem entschwindenden Anführer. Hoch in der Luft knackt etwas laut und dann fällt der Anführer so stumm, wie er in die Luft stieg wieder zu Boden. Dumpf schlug er neben zwei Schweinen auf, die sich bald daran machten, die willkommene Abwechslung des Speiseplans zu genießen.

Was war das? Die beiden Kumpane glotzten erst noch in den Himmel und begannen dann zu laufen. Er trat aus der Hütte um sich sofort gepackt und in die Luft gerissen zu fühlen. Wieso war er in der Luft? Was packte ihn so?

Das letzte, was der Unhold sah, waren seine dreckigen Füße, deren krumme Fußnägel gelbbraun über die Zehen hinausragten und hoch in der Luft hingen. Dann wurde sein Kopf gedreht und es wurde schwarz. Die zwei Hausschweine brauchten die nächsten Tage kein Futter.

Lange hielten sich eine Frau und ein kleines Mädchen vor einer kleinen Holzhütte im Arm und weinten. Kurz vor Sonnenuntergang kam Bark, der Jäger aus dem Wald, ein Reh über der Schulter. Wie zufällig war immer mal wieder am Haus der jungen Witwe aufgetaucht und ihr bei einigen Sachen zur Hand gegangen.
Heute wurde es kein fröhlicher Besuch, wie er gehofft hatte. Heute hielt er zwei Menschen im Arm und weinte mit ihnen und sprach ihnen Trost zu.


Am nächsten Morgen machte sich der Jäger auf ins Dorf um dem Schultheiß Bericht zu erstatten. Eine Mutter und ein kleines Mädchen machten sich auf den Weg zu einer Höhle, deren Eingang vor Kurzem erst freigeschüttet wurde.
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